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ARTVERGNÜGEN #23 – Verführung Freiheit im Deutschen Historischen Museum & Galerie carlier | gebauer

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Der Wahnsinn ist mal wieder ausgebrochen. Alle Jahre wieder und jedes Jahr noch schriller: Blinken ist das neue Leuchten, Best-of-Trance die neue Panflöte. Weihnachtsmärkte meinen inzwischen sie seien Jahrmärkte. Ach herrje und oh du fröhliche.

Verführung Freiheit im Deutschen Historischen Museum
An diesem grellen Spektakel vorbei entschwinde ich schneller als schnell in die pompösen Hallen des Deutschen Historischen Museums, wo ich von einem festlichen Kinderchor über den roten Teppich, in den hinteren Flügel des Gebäudekomplexes geleitet werde. Dem Ausstellungsplakat mit dem manikürten Handschuh konnte ich nicht länger widerstehen. Welch’ Kalkül, geht es in der aktuellen Ausstellung schließlich um Verführung. Aber nicht etwa um die erotische, sondern jene der neuen Freiheit nach 1945. In zwölf Kapiteln nehmen Künstler aus 28 Ländern Stellung zu damals wie heute aktuellen Themen wie Identität, Territorium und Macht vor dem Hintergrund der Aufklärung. „Die Ausstellung zeigt, wie die Kunst die vielstimmige Diskussion um die Idee der Menschenrechte unabhängig von Zeit und Raum mitbestimmt hat.“, sagt Co-Kuratorin Monika Flacke.

Und während ich noch über die im Schaukasten ausgelegten Handschuhe nachdenke, über die weibliche Doppelrolle als Hausfrau und Verführerin (Aurora Reinhard, Flowers / Blumen, 2006) stoße ich auf Maria Lassnigs nackte Heldin. Sie, die Künstlerin im Selbstporträt, hat die Augen weit aufgerissen. Der Lauf einer Pistole ist auf ihre Schläfe gerichtet, der Lauf einer anderen auf mich. Wen soll sie auslöschen, das Publikum oder sich? Wer soll überleben: „Du oder ich“ (2005). Eine Frage der Selbsterfahrung, der Selbstgrenzerfahrung.

„Eine Idee, die in die Welt gegangen ist, wird nie wieder verschwinden.“ Dieser eine Satz aus der Beschreibung des Ausstellungskapitel „Die Welt im Kopf“bleibt in meiner Erinnerung haften. Auch die Fotografie „In the House of My Father” (1996-97) von Donald Rodney beißt sich in meinem Kopf fest. Donald Rodney litt an Sichelzellenanämie, Blutarmut, welche letztlich das Organsystem zerstören kann. Während des Krankheitsverlaufs musste sich Rodney mehrfach Operationen unterziehen. Dabei entnommene Hautreste hat er zu einem Miniaturhaus geformt, das so klein ist, dass es unmöglich wäre darin zu wohnen. Die Unmöglichkeit zu Leben. Eine dysfunktionale Struktur ist auch Tamas St. Aubys „Portable Trench for Three Persons“ (1969), ein mobiler Schützengraben, der nicht den geringsten Schutz bieten kann und somit nutzlos ist.

Auf Finsternis folgt bekanntlich Licht und im Idealfall sogar Heiterkeit. Skurril und ganz schön dämlich ist Július Kollers „U.F.O.-naut J.K.“-Serie, Selbstporträts einer „universell kulturellen futurologischen Operation“. Von 1970 – 1996 fotografiert sich Koller mit diversen Objekten vor dem Gesicht: Bungalows, Teller, Brezeln. Eine tiefere Bedeutung erschließt sich mir nicht. Lustig, gerade darum. Zum Abschied winken Marcel Broodthaerds Plastikpalmen; eine Anspielung auf die so ersehnte Exotik, deren obskurer Kompromiss der Wintergarten ist („Ein Wintergarten“, 1974/75).

„Verführung Freiheit“ ist eine dieser Ausstellungen, die mich während der Berichterstattung noch mehr ergreift als während der Betrachtung selbst. Freiheit kann eben auch zunächst überfordern.

Deutsches Historisches Museum: Unter den Linden
Mo – So, 10.00 – 18.00 h
Eintritt: 8 Euro, ermäßigt 4 Euro



Und nun nimmt euch Saskia mit zur Galerie carlier | gebauer

Bei der Malerei von Peter Stauss wird man wach. In etwa die Dosis eines dreifachen Espressos erreicht den Geist allein beim Anblick der wilden Farbkompositionen, die sich dem Auge hier bieten. Der spannende Wechsel von Zwei- in Dreidimensionalität hält das Blut im Kopf und den Blick gebannt auf der Leinwand. Zwischendurch erscheint es unverkennbar, dass dieser Künstler auch einmal Bildhauer war. Man erkennt Menschen, Hunde und Affen in einem Durcheinander, das am Ende doch gar keines ist und versucht Geschichten zu den Bildern zu finden. Die Tiere scheinen uns in ihrer Vermenschlichung zu persiflieren mit ihren Mützen auf dem Kopf und ihren Gesichtern, die kurz an den treffenden Vergleich von Peter Fox und seinen Stadtaffen denken lässt. Farbfelder sind durcheinander gewürfelt, führen aus dem Bild hinaus und kitzeln den Bereich im Kopf, in dem irgendwo auch das Wort Yeah abgespeichert ist. Hier macht die Kunst, was sie machen soll: Spaß.

In weiteren Räumen zeigt der aus Singapur stammende Künstler Ming Wong nach Stationen wie Liverpool, Seoul, New York und Tokyo mit „Jag skulle vara som du / I should be like you“ erstmals eine Ausstellung in der Galerie carlier | gebauer . In seinen Videoinstallationen sehen wir neu inszenierte Fragmente aus dem Film „Persona“ des schwedischen Kultregisseurs Ingmar Bergman. Die Intimität der projizierten Nahaufnahmen von Augen, Mündern und Händen und den von Schauspielern nachgespielten Filmmomenten lässt sich gut aushalten. So manches Mal jagte mich Videokunst durch das Ausreizen von nicht entziehbaren Bildern in die Flucht. Ming Wong gebe ich berechtigterweise eine Chance und werde nicht enttäuscht. Auch ohne den „Persona“ gesehen zu haben, begreife ich die modifizierten Szenen und nehme mir trotzdem fest vor, dieses Stück Filmgeschichte nachzuholen.

Galerie carlier | gebauer: Markgrafenstraße 67
Di – Sa: 11.00 – 18.00 Uhr
Peter Stauss / Ming Wong bis zum 22. Dezember


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